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Das Verbrechen wartet leider nicht auf die "Mehrzweckhose Sommer"

Polizisten fürchten, bald ohne Uniform dazustehen. Lieferengpässe. Kein Witz. Die Spurensuche führt zu den Huthi-Rebellen. Und nach Bayern, das eine Extrawurst braucht.

Von Anna-Elisa Jakob für ZEIT ONLINE am 08. Mai 2024

Werden Polizistinnen und Polizisten in Deutschland bald nackt oder zumindest ungewöhnlich leicht bekleidet zum Einsatz fahren müssen? Diese seltsame Frage, sie steht nun im öffentlichen Raum, was an einem Video liegt, gedreht von der Bayerischen Polizeigewerkschaft, kürzlich veröffentlicht auf YouTube: Eine Polizistin und ein Polizist steigen aus einem Streifenwagen aus, sie tragen dabei keine Hosen. Sie hätten sich zwar schon neue bestellt, doch die Lieferzeiten seien einfach zu lang. Auch der Bayerische Landtag diskutierte darüber, 21 Uniformteile seien laut Gewerkschaft nicht oder nur sehr spätlieferbar. Und na ja, das Verbrechen wartet bekanntlich nicht, und natürlich erst recht nicht auf die "Mehrzweckhose Sommer".

Wie ernst ist die Lage, also: Wie steht es um die Repräsentationsfähigkeit deutscher Ordnungshüter? Und damit, wenn man das alles mal sehr intensiv weiterdenkt, ja auch um die Sicherheit in diesem Land?

Die bayerische Polizei beobachtet jedenfalls bemerkenswerte Zustände. Es florierten, vermeldet Jürgen Köhnlein aus dem Landesvorstand der DPolG Bayern, gewisse Tauschbörsen. Pensionierte Polizisten stellten ihre alten Uniformen zur Verfügung. Außerdem würden bereits Hosen aus dem "Repräsentationssortiment (1. Garnitur/Gala)" im täglichen Einsatz getragen. Was außerdem möglich, aber nicht zielführend sei: dass im Sommer die warme Winterhose getragen werden. Köhnlein hierzu: "Der Erfolg ist bei 25 Grad sicherlich schnell spürbar." Die Flüssigkeit, sagt er, suche sich ihren Weg.

Aus diesem Anlass ein Besuch in Hann. Münden, genauer: im Logistikzentrum Niedersachsen, kurz LZN, welches die bayerische Polizei beliefert, und außerdem die sechs anderer Bundesländer. Das LZN ist "Deutschlands führender Ausstatter mit Dienst- und Schutzkleidung"; ein guter Ort also, um mal nachzufragen, wie ein Polizist in Deutschland überhaupt an seine Uniform kommt. Und wie vielleicht auch nicht.

Ariane David, Abteilungsleiterin für Dienst- und Schutzkleidung im LZN, heute selbst in gar nicht mal so dienstlicher, sondern himmelblauer Sommerbluse, wirkt wie eine geduldige, durchaus humorvolle Frau. Gar nicht mal so komisch fand sie allerdings das Unterhosen-Video; und freut sich umso mehr, die Debatte nun um ihre Sicht auf die Bekleidungssituation erweitern zu können. Gerade steht sie zwischen Mehrzweckhose Winter (links) und Mehrzweckhose Sommer (rechts), Reihe F6 in der weitläufigen Lagerhalle, alle Hosen sind sauber eingeschweißt in insgesamt – mal schnell nachgezählt – mehr als 30 Größen. Sie haben einen hellblauen Streifen an der Seite, den tragen nur die Bayern. Es sind also, tatsächlich: die bayerischen Hosen! Ariane David kommentiert den Fund der Hosen lächelnd, aber doch in einer ihrem Amt wohl angemessenen Nüchternheit: "Es muss also sicher keiner nackt rumlaufen."

Gut, nackt also nicht, aber in Gala-Uniform? Kommt der Cannabis-Delinquent, der einer Schule ein paar Schritte zu nahe gekommen ist, da nicht ins Kichern?

Es gebe durchaus Lieferschwierigkeiten, das sagt auch Ariane David. Es stimme auch, dass die Bayern davon etwas stärker betroffen seien als andere Länder, die Berufsnfänger in Hamburg konnten in diesem Jahr beispielsweise zu 94 Prozent ausgestattet werden, die in Bayern hingegen nur zu 72 Prozent. Nur, sagt Ariane David, bemüht diplomatisch, sei daran "nicht immer nur einer Schuld".

Da wäre zum Beispiel der Socken-Auftrag, ausgeschrieben vom LZN am 5. September 2023: 100.000 Paar Feinstricksocken, schwarz, 41 Prozent Baumwolle, 37 Prozent Schurwolle, in neun Größen. Am 19. Januar 2024 konnten sie bestellen, geliefert wurde erst am 9. April. Zwischendurch kam eine Mail vom Lieferanten: "Üblicherweise planen wir für die Verschiffung eine Lieferzeit von 5 Wochen. Wegen der Angriffe durch jemenitische Huthi-Rebellen meiden die großen Containerreedereien der Welt die Route durch das Rote Meer und den Suezkanal. Die Schiffe werden nun um das Kap der Guten Hoffnung umgeleitet, was eine um ca. 3–4 Wochen längere Transportzeit zur Folge hat."

Den Einfluss der Huthi-Rebellen auf die Fußbekleidung deutscher Gesetzeshüter ist einer der eher schwer kalkulierbaren Faktoren für das Team von Ariane David. So wie es auch die Jahrhundertflut an der Elbe 2002 gewesen ist; da brauchten alle Polizisten plötzlich Gummistiefel. Es muss aber auch nicht gleich die ganz große Katastrophe sein; es könnte ihre Lieferketten ebenfalls durcheinanderbringen, wenn die Polizeiakademien in einem Jahr außergewöhnlich viele überdurchschnittlich große wie muskulöse Frauen einstellen würde. Kam allerdings bisher nicht vor.

Es gibt in Hann. Münden ein aufwendiges System für die Bedarfsplanung. Sie tragen ein, was für die Planung wichtig ist, also bei "Hemd, dunkelblau, Kurzarm" zum Beispiel, dass es das in acht Größen gibt (36–50). Den Jahresverbrauch: 7.200 Stück. Geschlecht: M – männlich. Lagerungsart: L – liegende Lagerung. Bestellzeit in Wochen: 3. Bezugsberechtigt: 51.696.

Alle Beamten bekommen ein Bekleidungsgeld von rund 300 Euro im Jahr, manche mehr, weil sie teurere Ausrüstung brauchen, andere weniger, weil sie den Tag vor allem am Schreibtisch verbringen. Dort brauchen sie nicht unbedingt schusssichere Westen, und ihre Hosen reißen in der Regel auch nicht so schnell.

Die Erfolgsgeschichte des LZN, das 2001 begann, nur die Polizei in Niedersachsen zu beliefern, mittlerweile aber rund 95.000 Polizistinnen und Polizisten in Deutschland mit Uniformen versorgt, dazu noch Justizen, Ordnungsämter, Stadtpolizeien, das Bundeskriminalamt, basiert auf dem Klett-Konzept. Das Landeswappen am Ärmel, die Aufschrift "Polizei" oder "Justiz" auf dem Rücken und der Name auf der Brust können mit einem Klettverschluss angebracht werden. So entstand eine gemeinsame Uniform des Nordens, von Hamburg, Niedersachsen, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.

Der Vorteil des Klett-Konzepts ist, das LZN kann große Mengen an Kleidung bestellen; denn es ist ja immer dieselbe Uniform, dasselbe Material, derselbe Schnitt, dieselbe Farbe (Pantone 19-4013, auch genannt: "dark navy"). Nur das Klett-Wappen ist unterschiedlich. Die Bestellung wird so günstiger, das LZN finde einfacher Lieferanten und könne eher sicherstellen, dass alle Artikel in allen Größen auf Lager sind. Die Klett-Uniform aus dem Norden ist laut LZN jedenfalls die "Uniformlinie der Zukunft". Am liebsten würden sie damit alle Landespolizeien in Deutschland einkleiden.

Nur, in Bayern halten sie nicht viel von Klett.

Die bayerischen Uniformen haben ein aufgenähtes Wappen, auch das "Polizei" wird hinten drauf genäht. Sie haben ein eigenes Blau entworfen, das gibt es nicht bei Pantone, und auch in keinem anderen offiziellen Farbsystem. Die Bayern entscheiden selbst, wie die einzelnen Teile ihrer Uniform aussehen, das Material, die Nahtlängen, die Reißverschlüsse, all diese Daten schicken sie nach Hann. Münden. Für die anderen Bundesländer berechnet das LZN das alles selbst. Den Bayern können sie hingegen nur mal einen Ratschlag geben, so wie den, als sie ein T-Shirt aus Bio-Baumwolle einführen wollte, bügelfrei. Da rieten sie aus dem Norden: bügelfrei (also, auch mit Chemikalien versetzt) und Bio-Baumwolle, das sei irgendwie ein Widerspruch in sich.

Man kommt nicht umhin sich zu fragen: Ist die Nord-Süd-Kommunikation ein bisschen wie chemische Bio-Baumwolle, der Widerspruch also schon darin angelegt? Der rationale Norden, der leidenschaftliche Süden, es gibt ja Vorurteile zuhauf. Thüringen zählt sich auf dieser Kommunikationsachse offenbar zum Norden. Sie sind 2019 ins LZN gewechselt, haben die Zukunfts-Uniform übernommen, Polizei und Justiz tragen nun dieselbe blaue Klett-Kleidung wie alle nördlichen Länder, "navy blue". Und sie seien "ganz glücklich, weil jetzt haben sie keine Lieferschwierigkeiten mehr", sagt Ariane David.

Früher fuhren Polizisten noch zu Kleiderkammern in ihrer Region, um sich einzukleiden. Das LZN bietet heute einen Online-Shop. Der die Pakete zwar nicht nach Hause liefert, sondern an die Dienststelle (nicht, dass ein Nachbar das falsche Paket auspackt und plötzlich in Uniform herumläuft). Der dafür aber wirklich alle Größen führt, die Gürtel zum Beispiel, bis zu einer Länge von 1,50 Meter. Wenn es einen triftigen Grund gibt, warum selbst diese Größen nicht passen, dann wird ein Teil auch maßangefertigt und kostet die Beamten trotzdem nicht mehr (zum Beispiel: Die Ärmel sind zehn Zentimeter zu kurz). Bei weniger triftigen Gründen (das Hemd lieber bauchfrei, die Hose bitte skinny) allerdings nicht, sagt Ariane David.

Das ganze LZN-System beruht auf Erfahrungswerten. Also, nach ihren Erfahrungen, sind Justizbeamten beispielsweise etwas korpulenter als Polizeibeamten. Und Polizeianfänger besonders schmal. Ihr System berechnet aus diesen Erfahrungen den Bedarf, in Form einer Gaußschen Verteilungskurve. Die Gaußsche Verteilungskurve für "Hemd, dunkelblau, kurzarm" zeigt, die meisten bestellten das in Größe 40 bis 42. Klickt man dann den Filter "16-25 Jahre" an, verschiebt sich die Kurve, der Gipfel ist dann bei 38 bis 40. Es zeigt außerdem: Im Juli, August und September bestellen besonders viele Polizisten das Kurzarmhemd. Ariane David sagt, das sei schon ein gutes System.

Nur braucht es für eine exakte Uniformbedarfsrechnung noch ein paar Informationen mehr. Also: Wie schnell reißt eine Hose? Wie schnell braucht eine Polizistin eine neue Bluse, wenn sie die nach jedem Tragen wäscht?

Deshalb testen sie Neuanlieferungen und immer wieder auch Stichproben aus ihrem Lager in einem Labor. Hier stehen diverse Testgeräte, also eine Waschmaschine und ein Trockner. Außerdem ein kleiner Ofen, das ist ein Klimaschrank. In ihm lässt sich die Uniform erhitzen und beobachten, wie sie sich bei unterschiedlicher Temperatur und Luftfeuchtigkeit verändert. Ein Farbmessgerät und ein Reibegerät, das sieht aus wie ein Plattenspieler, der mehrere Mini-Platten gleichzeitig abspielen könnte. Und einen schmalen Turm, für die Reißprobe. Gerade im Test: eine Anzughose, die soll eine Höchstzugkraft von 300 Newton haben. Und dann muss sie noch im Mini-Plattenspieler bestehen, frühestens nach 40.000 Reibungszyklen dürfen sich Fusseln bilden oder Nähte lösen.

Im LZN gibt es auch einen Bereich für Retouren. Jeden Morgen zwischen sechs und halb sieben kommen die Pakete an, werden ausgepackt, inspiziert – sind Fusseln darauf, wurden sie getragen? Sie werden mit einer Bürste gereinigt, abgewischt, gewaschen. Es wird nichts weggeschmissen. Und geprüft, ob der Grund für die Rücksendung, den Polizisten immer angegeben müssen, plausibel ist. "Zu klein, bitte größer": ist plausibel. "Gefällt mir nicht, die Farbe": nicht plausibel. "Der Kunde weiß ja, was er bekommt", sagt Ariane David.

Damit sie auch wissen, was sie verschicken, prüfen zwei Mitarbeiter, jede neue Lieferung, ihr Werkzeug ist das Maßband. Das muss alles so genau sein, sagt Ariane David. Es ist auf gar keinen Fall egal, wie groß die Napoleon-Brusttasche der Fleecejacke in den Größen 2XS bis 2XL ist, weil da ein Merkblock hineinpassen muss. Es darf auch keine Naht an der Hose schief sein. Eine schiefe Naht könnte dazu führen, dass die Hose schneller reißt, was wiederum bedeuten könnte, dass mehr Beamte schneller neue Hosen bestellen, weshalb dann im schlimmsten Fall in Reihe F9/L keine mehr hängen würden. Die deutsche Uniformversorgung, ein hochkomplexes Unterfangen.

Die Kontrollmechanismen sind fein austariert. Wenn eine Polizistin seit zehn Jahren die Schuhgröße 36 bestellt, aber plötzlich Laufschuhe in 42, sperrt sich das System. Weil, da stimmt doch etwas nicht – Anruf: ob die Füße plötzlich gewachsen seien? Bei anderen Produkten gibt es Höchstgrenzen, nicht mehr als 20 Paar Socken darf ein Beamter pro Jahr bestellen. Das LZN geht in seinen Berechnungen von einem vernünftigen Verbrauch aus, und Bestellungen von 200 Sockenpaaren, wie es sie schon gegeben haben soll, wirkten auf sie nicht mehr vernünftig. Solche Grenzen machen natürlich auch die Planung leichter. Die Bayern, sagt Ariane David, hätten solche Socken-Obergrenzen übrigens nicht.

Am 10. April stellte die SPD-Abgeordnete Christiane Feichtmeier im Bayerischen Landtag eine Anfrage an das Innenministerium: "Muss die bayerische Polizei bald in Unterhosen auf Streife gehen?" In der Antwort des Ministeriums heißt es, es müsse hervorgehoben werden, dass "alle Akteure am Markt den gleichen aufgezeigten Problemen unterliegen". Ariane David sagt das auch. Erfahrungsgemäß hätten es die Akteure, die große Bestellungen machen, deutlich leichter gegenüber den kleineren. Das sei einer der Gründe, warum es das LZN überhaupt gibt.

Die Polizeigewerkschaft Bayern freut sich derweil, dass eine ihrer Forderungen nun umgesetzt wird, der Bau eines eigenen Logistikzentrums im fränkischen Hof, fertig sein soll es im Jahr 2030. Weil Bayern dann, nach rund zehn Jahren wieder "die Beschaffung in eigene Hände nimmt!".


Symbolbild Polizist ohne Hose  

Wie steht es um die Repräsentationsfähigkeit deutscher Ordnungshüter?

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